Unsere Pilgerreise im 2014

Zürichs Schutzheiligen auf der Spur
Die Glarner kommen! Am Festtag der Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula hat sich eine Gruppe von Pilgern zuhinterst im Glarnerland bei der Felix-und-Regula-Quelle auf den Weg gemacht. In vier Tagesetappen pilgern sie nach Zürich. Hier treffen sie Alt-Stadträtin Monika Stocker, die in ihrem neuesten Buch einen Dialog mit historischen Persönlichkeiten — darunter auch Felix und Regula — führt. Ulrike Nitzschke pilgert bereits zum zweiten Mal mit und lässt uns im Blog an jeder Tagesetappe teilhaben. Hier Impressionen von der ersten Tagesetappe von Linthal nach Näfels.
30 Kilometer am ersten Tag – das ist kein Pappenstiel
„Dreissig Kilometer zu Fuss, gleich am ersten Tag – das ist wahrlich kein Pappenstiel“, sagt Marcel am Abend. Der Informatiker weiss, wovon er spricht. Er hat gerade das Ziel seines ersten Pilgertages erreicht. Am frühen Morgen hatten sich die Pilger am Bahnhof Linthal getroffen, einige bereits schon im Zug wieder erkannt, begrüsst und an die Begegnung vor einem Jahr angeknüpft. Da sind sie den Felix-und-Regula-Pilgerweg zum ersten Mal miteinander gegangen. Mehr als 50 Pilger waren es 2013. In diesem Jahr haben sich gerade mal halb so viele angemeldet. Aber, was freut, so viele reformierte wie katholische. Denn diesen Weg gehen sie gemeinsam. Beginnen ihn an der Felix-und-Regula-Quelle im Tierfehd.
Und es sind neue Pilger dabei. Dieses Mal sind auch zwei aus Zürich angereist. Wie Marcel. Er hatte im „Forum“ davon gelesen. Dreissig Kilometer zu Fuss über Stock und Stein von Tierfehd im Glarner Süden nach Näfels in Glarus-Nord. Warum tut er sich das an?
„Drei Tage laufen“, erklärt Marcel, das habe ihn gereizt. Das bedeute für ihn, drei Tage über das Leben nachdenken. In anregenden Gesprächen mit anderen auf demselben Weg. Auch mal für ein, zwei Kilometer allein. Dabei das Glarnerland und einige seiner Leute kennenlernen.
Unterwegssein hat Konsequenzen: es verwandelt den Pilger
„Als Glaubende gehen wir unseren Weg“, zitiert Franziskanerbruder Gottfried den Apostel Paulus in der Klosterkirche Näfels am Ende des ersten Pilgertages. Und auf dem Weg sind wir nun mal, solange wir leben. Nicht umsonst sprechen wir vom Lebensweg. „Wir haben keine bleibende Stadt, wir suchen die zukünftige.“ Bruder Gottfried ermutigt: Durch den Glauben finden wir auf den richtigen Weg.
„Wer sich an Jesu Botschaft hält, ist auf dem richtigen Weg. Selbst, wenn uns auch dabei manch‘ Umweg nicht erspart bleibt.“
Ja, und auch nicht manche Strapaze. Der Franziskaner spricht aus, was sich der eine Pilger wünscht, der andere vielleicht gar befürchtet, wieder ein anderer nicht für möglich hält, noch nicht: „Der Weg verwandelt Sie. Am Ziel werden Sie ein anderer Mensch sein.“
Ja, diese Erfahrung haben einige Pilger im vergangenen Jahr tatsächlich machen dürfen. Ihr Strahlen berichtet davon. Einige haben davon in den vergangenen Monaten geschrieben, erzählt, sind in Kontakt geblieben, haben sich ausgetauscht.
- Ein neuer Job.
- Eine neue Wohnung.
- Eine neue Liebe.
- Ja, und auch eine Trennung.
- Und es hat Nachwuchs gegeben unter den Pilgern.
Die Jüngste sass und lag auf dem ersten Pilgerweg noch im Kinderwagen. Dieses Mal läuft sie fröhlich zwischen den Erwachsenen mit den blau-weissen Fähnchen im Rucksack, verteilt stolz die Liedhefte. Nimmt ein jüngeres Mädchen an die Hand. Das ist mit ihrer Grossmama unterwegs, weil die Ankunft des nächsten Grosskindes naht. Um die nächste Pilgergeneration muss uns also nicht bange sein.
Mit den Füssen wandern und mit dem Herzen beten
„Mit dem Abstand vom Wohn- und Arbeitsort können Sie vieles leichter einordnen“, verspricht Bruder Gottfried. Pilgern, das sei für ihn mit den Füssen wandern und mit dem Herzen beten.
„Wundern Sie sich nicht, wenn Sie auf der Suche nach Gott über das eigene Ich stolpern.“
Eine körperlich wie geistig beanspruchende Tätigkeit also, dieses Pilgern. Der zweite Felix-und-Regula-Pilgerweg hatte ausgerechnet am 11. September begonnen. Am Gedenktag der beiden Märtyrer, die ihren Kopf für ihren Glauben lassen mussten. So die Legende. Und die aktuelle Wirklichkeit bringt uns an den Rand der Verzweiflung. Zweitausend Jahre später ist die Menschheit nicht schlauer geworden. Schlimmer noch. Im ach so aufgeklärten Zeitalter rollen tatsächlich noch immer Köpfe in Glaubenskriegen oder solchen, die dafür gehalten werden sollen.
Ob Wahrheit oder Legende: Felix und Regula sind ein Mahnmal für den Respekt vor Andersdenkenden – hier wie da. Am 11. September vor zweitausend Jahren, am Nine-Eleven 2001 und heute.
Dafür nehmen die zwei Dutzend Pilger die 90 Kilometer nach Zürich unter die Füsse. Das Wasser der Linth begleitet sie. Ihr Rauschen lässt hoffen.

Zürichs Schutzheiligen auf der Spur – in der Linthebene
Nach den dreissig Kilometern des ersten Tages verdichtet sich nicht nur der Regen, sondern auch die Gedanken. Ulrike Nitzschke lässt im Blog an Freud und Leid, an Krisen und Aufbrüchen teilhaben.
Vergiss dich selber, dann kann etwas werden
Kopflos hängen sie an der Wand – Regula und Felix in der nach ihnen benannten Kapelle oberhalb von Uetliburg. Rechts und links vom Altar halten die beiden aus Holz geschnitzten Figuren ihre Köpfe in Händen. Blutverschmiert sind ihre Hälse. Man möchte wegsehen. Und ist doch gebannt. Pepe Kohler sucht nach einer Erklärung.
Immer wieder wird der Glarner Pfarrer und Initiant des Felix-und-Regula-Pilgerweges nach dem Sinn dieser Darstellung gefragt. Dann erzählt er die Legende. Und von deren Symbolkraft. Mit dem Kopf durch die Wand – das habe doch jeder schon und nicht nur einmal wollen. Absolut überzeugt von der eigenen Idee. Oder von der schier unabänderlichen Situation. Da kann man doch nichts machen.
Kann man doch.„Es geht anders“, meint Pfarrer Kohler und empfiehlt, Sorgen und Ängste mutig beiseite zu schieben. Mit Gottvertrauen Platz zu machen für Neues.
„Vergiss Dich selber, dann kann etwas werden.“
Sicherheit aufgeben um aufrecht gehen zu können
Ich denke an die Gespräche unterwegs. Wie gut spricht sich beim Laufen aus, worüber man vielleicht schon lange gegrübelt hatte. Da ist der Endfünfziger. Er hat eine gute Position aufgegeben. Und mit ihr auch Sicherheit. Um wieder aufrecht gehen zu können. Er begibt sich auf den Arbeitsmarkt und erfährt, seine Berufserfahrung ist nicht gefragt. Das hat ihn beinahe aus der Bahn geworfen. Dann nimmt er eine Stelle auf Zeit an, teilt Verantwortung mit Kollegen und fühlt sich endlich wieder wohl. In seinem Beruf. Im Alltag. Im Leben.
Das motiviert. Es macht Sinn, Risiken einzugehen. Risiken, die gar ein grösseres verhindern können. Das, die Gesundheit zu ruinieren.
Wenn ich mich verbiege, leidet auf Dauer nicht nur meine Wirbelsäule. Eines Tages auch meine Seele. Doch ich kann die eingefahrenen Gleise verlassen. Muss mich nicht ängstlich daran festklammern. Es gibt andere Wege. Auswege. Lösungen.
Pepe Kohler meint noch mehr. Spricht von Gottes Wegen. Der Nachfolge Jesu. Loslassen, um seine Wege einzuschlagen. Wer liebt, kenne das. Wer liebt, gehe gern einen Schritt von sich weg, auf den anderen zu.
„Vergiss dich selber – lass Gottes Geist wirken.“
Es regnet immer mehr an diesem zweiten Pilgertag. Zudem macht der Asphalt in der Linthebene müde. Manches ist nicht so glänzend wie beim ersten Pilgerweg. Nach dem gelungenen Start im vergangenen Jahr sind nun die Mühen der Ebene zu meistern. Heisst es, sich selbst einzubringen. Und sei es, kehrt zu machen, zurückgebliebenen Pilgern auf den Weg zu helfen. Sie für das Ziel zu motivieren. Gemeinsam der Ernte dieser Auszeit entgegen zu laufen.

Zürichs Schutzheiligen auf der Spur - am Obersee
Pilgern entschleunigt das Leben — bis hin zum Internet. Die Pilger sind zu Fuss schneller unterwegs als der Bericht online. Kein Problem: Die beim Pilgern herangereiften Gedanken von Ulrike Nitzschke kennen kein Ablaufdatum. Oder haben Sie gewusst, dass der älteste Glarner nicht der Föhn ist?
Der älteste Glarner? Nicht der Föhn, sondern der Linthgletscher
Der älteste Glarner? “Das ist nicht der Föhn“, muss Rolf Jost die zumeist Glarner Pilger mit einem verschmitzten Lächeln enttäuschen. „Das war der Linthgletscher.“ Der zog sich vor 10 bis 15’000 Jahren durch das Glarnerland bis nach Zürich. Eine Endmoräne wie der Buchberg links der Linth erinnert bis heute an das Material, das der Gletscher vor sich her schob. „Hier, wo wir jetzt stehen, wären damals mindestens 200 Meter Eis über uns gewesen.“ Der reformierte Pfarrer ist vom ersten Tag an mit auf dem Felix-und-Regula-Pilgerweg unterwegs. Warum er sich plötzlich auf geografische Spuren begibt? „Als der Linthgletscher sich zurückzog, hinterliess er eine tiefe Mulde.“
Die Pilger lauschen dem Pfarrer auf der Brücke über dem Aabach. Aufgewacht sind wir heute Morgen im Benediktinerkloster St. Otmarsberg oberhalb von Uznach. Nach Morgenmesse und Frühstück öffnet sich uns die Klosterpforte zum Besuch der Klausur der Missionsmönche: Refektorium, Bibliothek, Klostergarten. Pater Adelrich erzählte von den irischen Wandermönchen Gallus und Kolumban, die das Christentum in die Region gebracht hatten. Vom anfänglichen Keimen ihres Weizenkorns Glauben. Vom Übermut, die Götterstatuen der Missionierten allzu bald in den Fluss zu werfen. Und von der anschliessenden Flucht der eifrigen Missionare. Aus Furcht vor dem Zorn der Leute.
Von Brücken und Brückenbauern
Der Fluss – das war die Linth. Deren Delta hatte sich im Gebiet des einstigen Linthgletschers ausgebreitet. Zwischen Weesen, Ziegelbrücke und dem heutigen Zürichsee. Und hier, auf der Aabach-Brücke, beginnt nun ein Gedankenspiel über Brücken und Brückenbauer.
„Eine Brücke überwindet Abgründe – auch zwischen Menschen“, sagt Rolf Jost. „Im Alltag zwischen scheinbar unüberbrückbaren Gegensätzen.“ Brückenbauer können zusammenbringen, verbinden. Einer müsse halt anfangen.
Früher wurden Brücken vom Tal hinauf gebaut. Heute von beiden Seiten gleichzeitig. „Sie schieben sich in die Mitte, bis sie zusammenreichen.“ Von den Rändern her, von den Ufern. Zwischen Konfessionen und Religionen ebenso.
Eine Brücke muss Tragkraft beweisen. „Um diese herauszufinden, beginnt man mit einem geringen Gewicht“, weiss Pfarrer Jost. Dem folge ein grösseres und schliesslich eines, das grösser ist, als es der Alltag erfordert. Dann erst sei der Beweis erbracht: Sie ist tragfähig. „Das isch e Brugg, wo hebet.“
Selber Brückenbauer sein: zu anderen Menschen und Religionen
Brückenbauer sein. Daran erinnert Hansruedi Simitz noch mehrmals an diesem dritten Pilgertag. Der Pilgerweg-Aktivist bittet nachdrücklich um Schweigen. Das irritiert. Im ersten Moment. Und tut dann so gut. Das Gehörte nachklingen lassen. Brückenbauen in Gedanken. Und Brücken schlagen dorthin, wo Menschen vielleicht gerade in diesem Moment um ihr Leben bangen müssen. Auf den Spuren der immer wieder kopflos dargestellten Märtyrer Regula und Felix beten wir für sie, die aktuell von ähnlichem Schicksal bedroht sind. Irgendwo weit weg in der Welt.
Wir wollen Brückenbauer zwischen den Religionen sein. Und geraten auf dem ökumenischen Pilgerweg bereits daheim an unsere Grenzen. Bei der Eucharistiefeier in der Kirche des Zisterzienserinnen-Klosters in Wurmsbach. Fünf Jahrhunderte nach der Reformation. Das schmerzt. Der Wunsch nach dieser Gemeinsamkeit wird gen Himmel gerufen.
Morgen fahren wir mit dem Ledi-Schiff nach Zürich. Zu den Gräbern von Felix und Regula. Sie waren Geschwister im Glauben. Auf Augenhöhe. Das möchte ich sein – mit Barbara und Hansruedi genauso wie mit Elsa und Rolf.

Zürichs Schutzheiligen auf der Spur - Ankunft
Geschafft! Mit 90 Kilometern Pilgerweg in den Füssen kommen die Glarner in Zürich an. Vor vier Tagen gestartet bei der Felix-und-Regula-Quelle ganz hinten im Glarnerland stehen sie jetzt an Plätzen, welche die Heiligen Felix und Regula geprägt haben. Ist mit dem Erreichen des Ziels der Pilgerweg zu Ende? Oder geht er im Alltag weiter? Ulrike Nitzschke verrät es.
Kopflose Wahrheit oder Legende?
„Der Marsch hat mir gut getan.“ Bernhard steht an der Kanzel in der Krypta der Zürcher Liebfrauenkirche. Der 83-Jährige sieht überhaupt nicht müde aus. Und ist doch mit uns in den vergangenen Tagen von Tierfehd im Glarner Hinterland bis nach Zürich gelaufen.
Zugegeben, ab Busskirch ging es mit dem Ledi-Schiff über den Zürisee in die Stadt, deren Schutzheiligen wir Pilger auf der Spur waren. Ja, waren. Denn die Pilgertage sind zu Ende. Der Alltag hat uns wieder. Und das ist gut so.
Hauptsache: des Herz am richtigen Fleck!
Mit Bernhard hatte ich mich auf dem Pilgerweg im vergangenen Jahr angelegt. Beim Abendgespräch in unserer letzten Bleibe. Es ging um Wahrheit und Legende von Regula und Felix. Ich war gerade von einem kleinen Uferspaziergang zur Runde dazu gestossen und mischte mich einfach ein:
„Ob Wahrheit oder Legende. Das Beste an Regula und Felix ist doch, dass sie uns zusammengebracht haben.“
Zugegeben, ein wenig provokant. Bernhard sprang auf. Nein, die Heiligen dürften in keiner Weise in Frage gestellt werden. Der Schwandener redete sich in Wallung. Ich erschrak. Einen Herzinfarkt hatte ich nicht provozieren wollen. Verwies ihn auf den doch positiven Teil meiner Aussage. Aber Bernhard blieb dabei: „Wer nicht fest an die Existenz von Felix und Regula glaubt, der ist ein Ungläubiger.“
Noch auf dem Weg zur Dusche entschuldigte ich mich bei unserem Senior für meinen Leichtsinn. Un-Glaube am Ende des Pilgerweges? Nein, nicht deswegen. Aber in Un-Frieden sollten wir keinesfalls zu Bett gehen. Der musste unbedingt noch aus der Welt geschafft werden. Als wir uns vor drei Tagen in Tierfehd wieder trafen, erinnerte mich Bernhard sogleich an diese Begebenheit.
Am Ende unseres zweiten gemeinsamen Pilgerweges stützt er sich nun mit den Unterarmen auf die Kanzel und erzählt, welche Fragen er sich in den vergangenen Wochen gestellt hatte: „Habe ich genug Kraft für diese 90 Kilometer? Bin ich imstande, das durchzustehen?“ Sein Hausarzt hatte ihn ermutigt. Immerhin stand uns jederzeit ein Kleinbus zur Verfügung. Darin das schwerere Gepäck und Plätze für die, denen die jeweilige Tagesetappe dann doch zu beschwerlich wurde. Oder die zwischendurch ein kleines Stück mitfahren wollten. Bernhard habe ich nur ein einziges Mal im Bus sitzen sehen. Dazu hatte man ihn beim verregneten wie steilen Aufstieg zum Berg Sion mit aller Kraft überreden müssen.
Dass die Geschichte von Felix und Regula bloss eine Legende sein könnte, nein, das kommt für ihn nach wie vor nicht in Frage. „Aber“, sagt er und lächelt, „dass sie ihre abgeschlagenen Köpfe noch ein Stück getragen haben, das muss man nicht glauben.“ Hatte ich richtig gehört? Für mich war das wie eine Absolution. Ein Jahr später. „Der Marsch hat mir gut getan. Und Euch auch“, ist der 83-Jährige überzeugt. Recht hast Du, Bernhard.
Als ich heute Morgen wieder im eigenen Bett erwachte, fühlte ich mich wie neu geboren. Danke – von ganzem Herzen.
Text von Ulrike Nitzschke